Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart

188 Chicago ist fürchterlich. Alles Leben hier geht auf in maschinellem Betrieb, so sehr, daß selbst der Zugereiste sich ihm unwillkürlich einfügt, aus Furcht, sonst zugrunde zu gehen. 522 Keyserling beschreibt Amerika ähnlich wie die Figur Rennewart. Amerika erscheint somit der zeitgenössischen europäischenWahrnehmung als beängs- tigendes Land, das sich neu und überlegen gibt und dadurch befremdlich wirkt. Amerika ist nicht durch Geschichte blockiert und treibt den techni- schen Fortschritt permanent voran und perfektioniert diesen. 523 Hier gibt die Reaktion auf das Fremde mittels der Wahrnehmung jedoch neue Rätsel auf, denn was nimmt der Europäer überhaupt als Fremdes wahr? Es ist zunächst nichts anderes als das Phänomen der Großstadt, das in Europa selbst seit einigen Jahrzehnten vor Entstehung des Romans thematisiert wird. Zudem erfährt die Großstadt als Ort von „Modernisierungsprozessen“ im Expres- sionismus besondere Aufmerksamkeit. 524 Von den Expressionisten wird die Großstadt als reizvoll sowie als bedrohlich empfunden, den zum einen ist sie „modern“ und versinnbildlicht damit etwas, wonach die Expressionisten selbst streben. 525 Zum anderen stellt den Ort der Überfoderung dar, den die Wahrnehmung des Individuums nicht mehr zu erfassen oder zu ordnen ver- mag. 526 Die folgende Textstelle aus Alfred Döblins bekanntem Roman Ber- lin Alexanderplatz macht die Analogie von Rennewarts Wahrnehmung New 522 Graf Hermann Keyserling: Reisetagebuch eines Philosophen, 2 Bde. 1918, Bd. II, S. 753 u. 809. Wird im Folgenden mit RTB abgekürzt. Dazu auch Zenk: Forschungsreisen, S 206f. 523 Vgl. Reif: Zivilisationsflucht, S. 118. Amerikanismus ist eng mit Zweckmäßig- keit und Fortschritt durch Technik verbunden. Für einen werkimmanenten Bezug vgl. Dauthendey: Acht Gesichter am Biwasee. München 1952, S. 3. Dort heißt es: „Auf dem Biwasee würde man dann bald Schiffe sehen, die Rauch ausstießen und die Seetiefe mit Schrauben aufwühlten. Auf Eisen würden bald Eisenwagen rasselnd wie Gewitterwolken, täglich durch Japan eilen. Die leich- ten Vogelkäfige der Bambushäuser würden verschwinden, und Steinhäuser, wie man sie im Westen der Erde baut, würden zum Himmel wachsen, und überall würden dann Rauch und Eisenlärm sein.“ Europäer und Amerikaner werden immer in Bezug auf ihre Technik dargestellt und negativ gewertet, da sie die Landschaft am japanischen Biwassee mittels dieser Technik bearbeiten. 524 Vgl. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 100ff. 525 Vgl. ebd. 526 Vgl. ebd., bes. S. 105. Die Aporien der europäischen Wahrnehmung

RkJQdWJsaXNoZXIy MjA3NjY=