Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart
204 aber ein Schwärmer, so schwärmte man eben auch für diese Mißgeburtenge- danken, so wie der Indianer für die Mißgeburtenkörper im Nationalmuseum schwärmte und Hand in Hand mit seiner ganzen Familie hinkam und dort die vermeintlichen Lebenswunder anstaunte. So bekam das europäische Volk, ebenso wie die Indianer, sagte ich mir, seine hirngespinstigen und naturwid- rigen Gedankenmißgeburten, indem es aufsieht zu denen, die sich dem Pries- tergesetz der Lieblosigkeit und der Entsagung unterwerfen können, anstatt Menschenfortpflanzer zu werden – einem unnatürlichen Gesetz, das sehr einer Missgeburt gleicht. […] Spätere Jahrhunderte werden unsere Gehirnmißgeburten ebenso schau- dernd betrachten, wie wir heute die Indianer verabscheuen, die Mißgeburten verehren. 576 Mit diesen Analogien von indianischen Kunstwerken und europäischem Denken hebt Rennewart seine eurozentristische Perspektive anscheinend auf, da er sich und seine Kultur nicht mehr über diese Gebilde stellt, sondern sie als Abbilder der eigenenMentalität betrachtet. Dabei benutzt Rennewart diskursive Formulierungen wie „einfach“, „natürlich“ oder auch „unnatür- lich“, was speziell auf das Zölibat europäischer Priester abzielt. Betreibt Ren- newart auch Religionskritik in alle Richtungen, so erscheint das doch nicht als zentraler Aspekt in dieser Passage. Mit dem Primitivismus stimmt diese Haltung kaum überein, wenn auch Adjektive wie „einfach“ und „natürlich“ darauf schließen ließen. Die Kunstwerke bleiben für Rennewart allerdings hässlich, weil er sie nicht als Impuls gebend ansieht, was im Sinne einer pri- mitivistischen Auffassung wäre. Eben aufgrund ihrer Hässlichkeit qualifi- ziert sich die Kunst für den angesprochenen Vergleich, wodurch Rennewart seine eurozentristische Wahrnehmung doch beibehält und sie auch seiner eigenen Kultur gegenüber erweitert, indem er zu einer sozialdarwinistischen Argumentation übergeht. Diese wird explizit, wenn er es als widernatürlich empfindet, dass sich die christlichen Priester nicht fortpflanzen dürfen. Die Fortpflanzung und damit die Hervorbringung von „gesundem“ Nachwuchs stellt im Sozialdarwinismus die biologische Pflicht eines Organismus dar. In dem Roman Raubmenschen ist keine Rede von der „primitiven“ Kunst als Ideal, denn Rennewart kann der indigenen Kunst der Indianer, die hier eben nicht den Mexikanern zugeordnet wird, nichts abgewinnen. Der Roman Raubmenschen richtet sich also gegen den Diskurs des Primi- tivismus, den Einstein erst einige Jahre später für die Kunst und Literatur 576 Ebd., S. 189. Die Aporien der europäischen Wahrnehmung
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