Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart

205 in Deutschland propagiert, indem der Text diesem eine sozialdarwinisti- sche Argumentation entgegenhält. Zu attestieren bleibt jedoch, dass Ren- newart über die „Mißgeburten“ wieder einen Kulturrelativismus einführt, wenn er die Artefakte des Museums in Analogie mit seinen Gedanken und europäischen Gesellschaftsregeln setzt. Mit diesem eingeführten sozialdar- winistischen Kulturrelativismus scheint er sich vorgeblich von Europa zu distanzieren, jedoch nimmt er die indianischen Kunstgegenstände ebenfalls eurozentristisch wahr, wenn er sie zum Sinnbild der falschen und pejorativ konnotierten Zivilisation macht, die nicht nach den vermeintlich „natür- lichen Gesetzen“ des Sozialdarwinismus funktioniert. Ähnlich wie Kurtz, der als negatives Symbol des Eurozentrismus fungiert, funktionalisiert Ren- newart den ursprünglichen, indianischen Symbolgehalt der „Mißgeburten“ um. Wird Haeckels Theorie vom „Überleben des Besten“ in Erinnerung gerufen, so verdeutlicht diese, dass „Mißgeburten“ im sozialdarwinisti- schen „Struggle for existence“ keine Überlebenschance eingeräumt werden würde. Diese werden zum einen zu artifiziellen Zeichen des im Text nega- tiv gewerteten Eurozentrismus, zum anderen bilden sie das Gegenbild für eine sozialdarwinistische Sichtweise, die nur gesunde, wohlproportionierte Organismen gelten lässt. Aber auch die für den Primitivismus wichtige Zeit- dimension findet sich in diesen Textpassagen verhandelt. Werden außereu- ropäische Kunstwerke im Sinne des Primitivismus als Symbole für eine Ver- gangenheit vor der Zivilisation aufgefasst, in der der Mensch harmonisch mit der Natur lebte, so sind die indianischen Kunstwerke in den Raubmen- schen von dieser Zeitvorstellung getrennt, indem nur ihr schreckliches Aus- sehen in der Gegenwart wirkt, aber auf keine vorzivilisierte Zeit verweist. Die Vergangenheit Mexikos interessiert den Text in diesem Kontext nicht. Der Roman negiert somit die primitivistische Zeitauffassung und ersetzt sie durch eine evolutions- und sozialdarwinistische Theorie, weil anstatt der Vergangenheit die Zukunft ins Zentrum gestellt wird. Die beiden letzten Zeilen der zitierten Passage verdeutlichen dies, weil ihnen die Annahme inhärent ist, dass es eine zukünftige Fortentwicklung des Menschen gibt, und dieser dann das im Roman gegenwärtige europäische Denken als über- holt betrachtet. Somit argumentiert der Text wieder eurozentristisch, weil er die Indianer auf eine frühere evolutionäre Stufe stellt. Für die sozialdar- winistische Ideologie erscheint der Titel Raubmenschen im Hinblick auf das von Darwin uminterpretierte Theorem vom „Survival of the fittest“, das zum „Survival of the Strongest“ umfunktioniert wurde, bereits paradig- matisch. Mexiko ist ein europäischer Verhandlungsort dieser evolutionären Die Aporien der europäischen Wahrnehmung

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