Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart

209 wollte, dann stieg mir ein Schluchzen, eine Sehnsucht nach der Heimat, eine Sehnsucht nach Europa aus meinem Innern. Und mit dem Ruf: „Ich will jetzt zurück, ich will nach Europa, ich will fort, ich bin ein Europäer, ich bin ein Bürger von Europa, und dieses mexikanische Feuerwerk darf mich nicht ersti- cken“ mit diesem Ruf löschte ich die Flammen. 584 Die eskapistische Bewegung nimmt sich hier die zuvor konstruierte euro- päische Identität zum Fluchtpunkt, indem Rennewart sich wieder bewusst macht, dass er ein Bürger Europas ist. Obwohl er das Negativabbild der euro- päischen Kultur und Gesellschaft in Mexiko bedrohlich erfahren musste, sti- lisiert er Europa zum eskapistischen „Wunschbild“ 585 . Dabei ist es eben das imperialistisch und kolonialistisch agierende Europa, das aus Mexiko das für die Protagonisten bedrohliche Land gemacht hat. Der exotistische Eskapismus des Textes tritt somit in eine Zirkelbewegung ein. Den kritischen Stimmen zumExotismus vonDauthendeys Zeitgenossen Robert Müller oder Thomas Mann – wie in Kapitel 1 ausgeführt – setzt der Roman das Argument entgegen, dass literarischer Exotismus als diskursive Verhandlung der eigenen Kultur funktionieren kann. Der Roman Raubmen- schen entkräftet den Vorwurf der Blindheit gegenüber der eigenen Kultur, wenn der exotistische Text diese zum Gegenstand der Sehnsucht erhebt. Die europäische Wahrnehmung blendet demnach die andere, erfahrene Kultur wieder aus und konstruiert Europa als heimisches und sicheres Land. Aus dieser Darstellung lässt sich ein anderer, bereits implizierter Aspekt ableiten, der zugleich die Schnittstelle zwischen dekonstruktivistischer und psycholo- gischer Lektüre bildet. In der Figur Rennewart wird Europa hier bereits als Ort der Sehnsucht, als harmonischeWelt konstruiert. Exotismus erweist sich nicht als orts-, son- dern als wahrnehmungsabhängig, was den Ansatz der Interpretation unter- füttert. Die Geschehnisse wurden aus eurozentristischer Perspektive geschil- dert, da Rennewart Europa gegenüber Mexiko als friedliches Land stilisiert und somit eine Hierarchie etabliert, auch wenn er gleichzeitig und perma- nent die Europäer als „Raubmenschen“ abwertet und sich bereits in Amerika dafür zu schämen beginnt „ein Europäer zu sein“ 586 . In Mexiko nimmt dieses Gefühl noch zu: „Und ich bedachte schlaflos, wie viel eingeborenes Leben 584 RM, S. 291. 585 Der Begriff wird nach Reif verwendet, vgl. Reif: Zivilisationsflucht, S. 15. 586 RM, S. 66. Die Aporien der europäischen Wahrnehmung

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