Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart

211 werden kann. Freuds Verdrängungstheorie 590 wird nun allerdings auf den Prozess der Ausdifferenzierung von Gesellschaften und den damit verbun- denen Kolonialismus gelegt. Mexiko als das Negativbild Europas fungiert als Verdrängtes, als Ort des Unbewussten und der Perversionen. Alles, was von den Diskursen in Europa ausgeschlossen wird, findet sich in Mexiko zu einem Gegendiskurs zusammen, indem die Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren. Das Ausleben aller Phantasien und Perversionen, das in Europa aufgrund von Sanktionierung und Normierung nicht möglich wäre, ist dafür ein Beleg. Das durch den Text generierte Mexiko kann daher als Unbewusstes und als Gegendiskurs der europäischen Gesellschaft verstan- den werden. Diese Auslagerung aller Leidenschaften, Instinkte und Phanta- sien ist notwendig, damit die europäische Gesellschaft entstehen konnte und als solche – im Rahmen ihrer Normen – auch funktioniert. 591 Der Roman Raubmenschen führt dieses diskursiv-psychologische Entstehungsschema vor und macht es transparent. Dem Text gelingt das durch die Funktionali- sierung des exotistischen Wahrnehmungsmusters des Ich-Erzählers Renne- wart, indem dabei zunächst die Illusion der Wahrnehmung eines fremden Landes aufgebaut wird. Die Analyse hat gezeigt, dass die Fremdheit, die Rennewart wahrzunehmen glaubt, eine Konstruktion seiner Wahrnehmung ist, da er einzig pervertierte europäische Verhaltensmuster und Interessen in Amerika und Mexiko beobachtet. Es bleibt zu attestieren, dass der Exotismus des Romans auf Europa zurückgeworfen wird und Entstehungsbedingungen der europäischen Gesellschaft verhandelt. DieWahrnehmung zeigt sich so auch in diesemText als stark eurozentristisch und mithin sozialdarwinistisch geprägt. Zwar übt Rennewart Kritik an den europäischen „Raubmenschen“, die die Indianer unterdrücken, aber sein Wahrnehmungsverfahren vermag den Eurozentris- mus nicht zu verlassen, da das vorgeführte Mexiko allein die Funktion hat, Grundlagen der europäischen Kultur und Gesellschaft auszustellen. Die von 590 Vgl. Sigmund Freud: Die Verdrängung (1915). In: Ders.: Psychologie des Unbe- wußten, StA. Bd. III. S. 103 ff. 591 Vgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung. In Ders.: Kritische Studienausgabe, Sechste Abteilung, Zweiter Band. Hg. v. Gior­ gio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1968, S. 307-353, S 307ff. In seinem Text Zur Genealogie der Moral liefert Nietzsche das philosophische Muster. Nietzsche konstatiert, dass jede Gesellschaft nur durch die Unterdrückung des einzelnen Menschen entstehen kann und dieser Prozess über innerpsychische Instanzen wie das „Gewissen“ und die „Schuld“ funktioniert . Die Aporien der europäischen Wahrnehmung

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