Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart
184 sich das Wahrgenommene durch das bestimmt, was Rennewart an Wissen über Mexiko bereits aus Europa mitbringt. Somit metaphorisiert das Schne- ckenhaus nicht nur den eigenen Kulturhabitus, sondern stellt zugleich den Projektionsort dar, von dem Bilder auf das Fremde geworfen werden. Meta- phorisch gesprochen hieße das, dass die Schnecke nur ihr Haus wahrnimmt. Durch dieMetapher „Schneckenhaus“ ist aber nicht nur das aporetische Pro- gramm der Auswanderung gegeben, sondern auch zugleich die Position von Rennewarts Reflexionen im gesamten Text abgesteckt. Zunächst muss sich Rennewart das „Schneckenhaus“ auch erst noch bauen. Das geschieht durch einige Reflexionen über seine Identität an Bord des Schiffes „Prinzregent“. Ich hatte mir niemals klargemacht, dass ich Europäer war; bisher, wenn ich in Europa nach Russland, Italien, Norwegen oder Frankreich und England gereist war, hatte ich nur gewusst und überall empfunden, dass ich ein gebo- rener Deutscher war – aber als Europäer hatte ich mich nur gefühlt, wenn ich zufällig einmal in Berlin oder Paris einen Amerikaner sprach, oder wenn ich einen Atlas aufschlug und die Erdteile mit demZeigefinger bereiste. Nun aber, je näher wir mit dem „Prinzregent“ ans Ziel kamen, desto unsicherer wurde ich vor dem großen Kontinent, der mich erwartete; und um demReisenerdteil ein Gleichgewicht an Selbstbewußtsein entgegen zu setzen, genügte es nicht mehr, dass man sich einen Deutschen nannte. Man mußte zu größeren Über- blicken greifen und sich als Europäer fühlen – nur so konnte man vor dem unermeßlichen Einheitsland noch einiges Persönlichkeitsgefühl bewahren. 512 Diese Reflexionen stimmen mit den Aussagen des Erzählers im Vorwort überein, wo dieser die Reflexion „Europas“ und des „Europäischen“ als Inhalt des Textes propagiert. Rennewart beginnt also auf See mit der Erzeugung einer europäischen Identität. Diese erscheint erst in dem Moment sinnvoll und notwendig, in dem Europa verlassen wird. Das Subjekt ist gezwungen, sich an seiner eigenen Persönlichkeit und Identität zu orientieren. Zugleich etabliert sich dabei ein Fremdes, da der Akt der Identifizierung Rennewarts als Europäer ein Akt des Erzeugens ist. Es sei angemerkt, dass explizit noch nichts Fremdes im Text aufgetaucht ist, sondern der Europäer durch seine Identifikation als solcher dieses erschafft, den Raum für das Auftauchen zunächst installiert. Erst jetzt erweist es sich als sinnvoll, von einer europä- ischen Wahrnehmung zu sprechen, mit der ebenfalls der Rahmen gegeben wird, in dem sich ein Fremdes im weiteren Textverlauf zeigen kann. Der 512 Ebd., S. 57. Die Aporien der europäischen Wahrnehmung
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