Max Dauthendey - DrMayer - Raubmenschen - Rennewart

187 [Rennewart zu seiner Nichte in Philadelphia]:„Willst du mich nicht mal nächstes Jahr in Europa besuchen?“, da antwortete mir die junge Amerikane- rin: „Ach, Onkel, komm dann wieder zu uns herüber. Was soll ich denn da drüben in dem altmodischen Europa! Bei uns ist doch alles viel neuer.“ 519 Die USA werden in Opposition zum „alten Europa“ 520 als neue Gesellschaft beschrieben. Die europäische Wahrnehmung zeigt sich damit wiederum überfordert und versucht, sich an dieses Denkschema anzupassen, wodurch Rennewart sich eine „Überlegenheit“ erhofft. Als Europäer situiert sich Rennewart selbst in der Position des „Hinterwäldlers“, der sich nicht in die schnelllebige Gesellschaft Amerikas einfinden kann. Mit diesem Gefühl ist die Figur Rennewart weder im Text selbst, noch im zeitgenössischen Kon- text allein. So schildert die Figur Hannah das gleiche Problem, wenn sie vom „maschinenhaften Dasein in Europa und Amerika“ spricht, was ebenso als Legitimation für die Auswanderung nach Mexiko fungiert. 521 Aber auch Dauthendeys Zeitgenosse Graf Hermann Keyserling – um den es in diesem Kapitel auch noch gehen wird, aber auf denhier vorgegriffen werden muss – beschreibt in seinem Reisetagebuch eines Philosophen ähnliche Eindrücke von Amerika: Der Europäer kommt sich alt vor, wenn er sich mit dem Amerikaner ver- gleicht. Er fühlt, wie viel er hinter sich hat, wie sehr seine mögliche Zukunft von der Geschichte vorausbeschränkt ist. 519 Ebd., S. 66 u. S. 65. 520 Diese Denkmuster von Amerika als „Neuer Welt“ und Europa als „Alter Welt“ hat sich im Entdeckungszeitalter, seit Kolumbus und Amerigo Vespucci, ent- wickelt. Interessant erscheint allerdings, dass dieses Denkmuster auch 2003 wieder abgerufen wurde, als es um die zweite militärische Intervention im Irak ging, die besonders von Seiten der USA befürwortet wurde. Vgl. http://www. defenselink.mil/transcripts/transcript.aspx?transcriptid=1330, letzter Aufruf am 2. März 2010. Beim Aufstellen der dafür notwendigen Koalition aus ver- schiedenen Staaten („coalition of the willing“) bezeichnete der damalige ameri- kanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in einer Pressekonferenz am 22. Januar 2003 Frankreich und Deutschland als „altes Europa“ („old Europe“), da sie sich nicht an einer Militäraktion beteiligen wollten: „Now, you’re thin- king of Europe as Germany and France. I don’t. I think that’s old Europe.“ Die Formulierung „altes Europa“ sowie die pejorative Konnotation erweisen sich damit als stets gängige, politisch funktionalisierbare Bezeichnung. 521 Vgl. Zenk: Forschungsreisen, S. 345. Die Aporien der europäischen Wahrnehmung

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