Max Dauthendey - Japan - Abendglocken - Mijderatempel

nichts von der Sprache dieses Baumes. Die Zeichensprache aller chinesischen Bäume konnte er lesen, an diesem Baum aber blieb sie für ihn unleserlich. Und Ata-Mono weinte, als die Sonne untergegangen war und er unter dem unbegreiflichen Baum saß, unwissend und einsam. »Wenn ich dich nicht lesen kann, so sprich!« schrie er den Baum ungeduldig an, als die Sonne zum letzten Male aufleuchtete und den Stamm rot bestrich. »Herrlicher, herrlicher Baum!« schrie Ata-Mono voll Entzücken, weil der Baum von der Wurzel bis zur Krone wie eine feurige Kohle leuchtete. Der Baum schwieg. Die Sonne ging unter. Ata-Mono schrie: »ich schwöre, daß ich nichts mehr essen und nichts mehr trinken werde, bis du mich deine Rindenschrift lesen läßt oder bis du mir jemanden sendest, der mich deine Schrift lehrt.« Und Ata-Mono lief zum Strand und stopfte sich den Mund mit Kieseln voll, weil er nicht mehr essen, nicht mehr reden, nicht mehr schreien und nicht mehr atmen wollte. Halb erstickt lag er am Strande und haßte den neuen Baum und haßte China und haßte seine Sehnsucht nach der Unsterblichkeit. »Ich will die Harfe vergessen«, dachte er und lag in den letzten Atemzügen. Dann wurde ihm wohler. Wie beruhigend ist es doch, wenn man einen wilden Wunsch aufgibt! Man steigt herab wie von einem wilden Pferd und hat wieder festen Boden unter den Füßen. Nach dieser beruhigenden Betrachtung richtete er sich gcdankenlos auf, nahm die Steine gedankenlos aus dem Munde und schöpfte frischen Atem. Dann sprang er auf seine beiden Beine, streckte die Arme aus und lachte wieder zum ersten Male seit vielen Jahren. Und seine Stirn, die immer gegrübelt hatte, wurde blank und jung wie die aufgehende Mondscheibe. »Ach, Mond, lebst du noch? Ich habe dich lange nicht gesehen.« Und Ata-Mono bewunderte die kleinste Muschel im Mondschein, die Grübchen im Sand und die Wölklein, die mit dem Mond zogen, denn er hatte seit Jahren nur Bäume und Baumrinden gesehen und alles andere vergessen. Und nun ließ er auch sein Gehör wieder zu sich kommen. Er, der nur mit den Augen an den Baumrinden gelebt hatte, horchte, wie das Dünengras raschelte, wie die Dünenmäuse miteinander wisperten, wie die Füchse hinter den Baumwurzeln bellten, wie die Eulen sich zuriefen und wie die Fische im Mondschein plätscherten. Und nachdem er sein Gehör befriedigt hatte, sagten seine Zunge und sein Gaumen zu ihm, seine Zähne und sein Magen und sein gekühltes Blut: »Weißt du, es gibt ganz andere Dinge zu essen als Baumsaft und Baumrinde, wovon du dich jahrelang genährt hast. Hörst du nicht? In der Ferne gackern Truthühner im Schlaf. Und Schweine grunzen im Schlaf, weil ihnen der Mond auf die Rüssel scheint. Und Bauernhöfe sind in der Nähe, wo du Eier, Schweinespeck, gebackene Fische und Reis essen kannst. Und sehnst du dich nicht nach Wärme am ganzen Leib? Und hast du nicht dort, wo den andern Menschen ein verliebtes Herz sitzt, einen bitterkalten Fleck in der

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