Max Dauthendey - Japan - Abendglocken - Mijderatempel
heute noch ihr Andenken und ihr singendes Lachen. Als der große chinesische Weise und Wissende und sein lieblich lachendes Weib nach glücklichster Ehe hochbetagt starben, begrub man beide am Meeresstrande unter dem rätselhaften Baum, dessen Rinde Ata-Mono niemals entziffert hat. Hundert Jahre nachher, als die Chinesen Japan entdeckten und den harfenförmigen Biwasee als die große Harfe im Lande des ewigen Feuers liegen fanden, brachte man dorthin ein Reis jenes unerklärlichen Baumes, zu einer Zeit, wo die Japaner noch in Blätterkleidern und mit ungekämmten Haaren das kleine Feuereiland bewohnten und die Chinesen dort die ersten Apostel höherer Bildung und Gesittung wurden. Und wieder einige Jahrhunderte später, als die ersten chinesischen Buddhisten-Mönche die Religion des Pflanzen-, des Tierreiches und des Menschenreiches den Japanern gaben und sie die Verbrüderung aller Weltallwesen lehrten und Mönche den Mijderatempel mit seinen Terrassen am Biwasee bauten, da erinnerte man sich wieder des rätselhaften Baumes, der nun durch die Jahrhunderte stark und mächtig geworden war. Und jeder, der zu dem Baum am Biwasee kam, sprach von Ata-Monos Geschichte, bis eines Tages ein japanischer Mönch geboren wurde. Dieser war der erste, der die Rinde des alten, rätselhaften Baumes am Biwasee entziffern lernte, die bis dahin unleserlich geblieben war. Und er las zu seinem Erstaunen von der Baumrinde den Satz: »0 wisse, Mensch, und höre mich, der ich alt werde wie die Erdrinde: Mir und allen, welche so alt werden auf der Erde, steht die Liebe höher als die Unsterblichkeit.« Und diesen Spruch las der japanische Mönch milliarden- und milliardenmal in die Kronenäste, in den Stamm und in die Wurzelrinden gegraben; bis zur tiefsten Wurzel drunten in der Erde sprach der Baum keinen anderen Satz. Nun erinnerte man sich auch, daß Ata-Mono, seitdem er glücklich mit dem lachenden Weibe lebte, nie mehr von der Unsterblichkeit gesprochen, daß er sein Weib niemals nach dem Wege zur Unsterblidikeit gefragt hatte. Und aus der Vergangenheit stieg das Lachen jenes Weibes wie aus einem Grab, als Mönche eine Glocke gegessen hatten, die noch heute abends im Mijderatempel geläutet wird und deren Stimme wie die sanftgewordene Stimme von Jahrtausenden klingt und die den singenden Ton eines glücklichen Weibes hat. Der alte Baum ist heute nur noch ein Stummel, von Stelzen und Krücken gestützt. Zu dem Platze, wo er am See steht, führt ein hölzernes Tempeltor. Seine Zweige sind mit Tausenden von weißen Gebetszetteln behangen. Tausende von Pilgern aus Japan und China besuchen ihn, den Unsterblichen, der verkündet: »Die Liebe ist größer als die Unsterblichkeit«, und nennen ihn »den Glücklichen«, weil er Abend um Abend die kostbare Frauenstimme der Abendglocke des Mijderatempels belauschen darf, die jenem weiblichen Lachen gleicht, bei welchem einst Ata-Mono den Wunsch nach Unsterblichkeit vergaß.
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