Max Dauthendey - Auf dem Weg zu den Eulenkäfigen

eigenen Wünsche fallen ließ, sah ich auf dem Fünfminutenweg hin zu den Eulenkäfigen Claudias Leben, das sich rasend vor mir abspielte. Man sagt, daß einem von einem Turm oder Berg Stürzenden innerhalb der Sturzsekunden das Leben in blitzartigen Bildern vor den Augen vorüberrase. So geschah es mir mit Claudias Leben auf dem Weg zu den Eulenkäfigen. Vorher hatte ich es nie im Zusammenhang gesehen. Nie hatte sie selbst mir viel erzählt. Nur Andeutungen, nur Sätze und nur kurze Geschehnisse, erzählt von gemeinsamen Freunden über sie, lagen zerstreut in mir. Nun aber schossen mir alle diese Eindrücke, wie von einem Magneten angezogen, auf dem Weg zu den Eulen zu einem so tragischen Lebensbilde zusammen, daß mich jeder Schritt marterte, den ich neben Claudia weitergehen mußte. Und doch lockte mich die Erhabenheit eines verfinsterten Menschenlebens, so wie schmerzliche Flötenlaute bestricken und uns fortführen können in ein Dickicht, durch Stacheln und Dornen. Claudia war einst eine starke, mutige, das Leben herausfordernde, tapfere, junge Studentin gewesen. Der Mann, den sie heute noch liebt, trotzdem er ihr Grauen einflößt, trotzdem er täglich Mühlsteine an ihre Seele hängt, war damals ein hoher schlanker Student. Claudia hatte ihm den Namen Dagon gegeben; Dagon, der biamesische Gott des Ungeheuerlichen, der Gott des Verschlingens ohne Ende, der Gott der Lebensunsicherheit, zu dem alle Sterblichen beten, und der ihnen nichts für ihr Gebet gibt, keine andere Gewißheit als den Tod. Dagon, der Gott des grauenhaften Nichts, der Schicksalsrachen, der die Menschheit zermalmt, dem niemand Widerstand leisten kann, der Gott, für den die Blumen welken, die Vögel tot aus dem Himmel fallen, vor dem aus Furcht die Erde zu zwei Dritteilen in das bittere Angstwasser ihrer Meere gehüllt steht, während nur ein Drittel der Erde Dagon die Stirnen der Berge als Widerstand hinstellt. Claudia hatte diesen Namen wie in einer Vorahnung ihres Schicksals dem jungen Studenten gegeben, damals noch nicht wissend, wie tief erkennend sie dabei war. Denn wie stark der Gott allmächtiger Willkür in dem Geliebten verkörpert war, das erfuhr sie erst im Laufe der Zeit. Es waren zuerst nur Kleinigkeiten gewesen, die Claudia den Namen Dagon und damit die Erscheinung des gruseligen Gottes vor die Augen führte, wenn sie den jungen Mann und zukünftigen Lebensgefährten beobachtete. Es belustigte sie, den Geliebten auf Widersprüchen zu ertappen, aus denen er sich lächelnd und kühl überlegend oder mit einem gewandten Geistessprung ins Blaue ihren starken schwarzen Augen entrückte. Damals merkte sie zuerst, daß jener Mann in noch einer ihr fremden Dimension lebte, die sie nicht an anderen Menschen kannte, die Dimension des Fabelhaften, die Dimension, in der die Wirklichkeit und der Schein, die Wahrheit und die Lüge nebelhaft ineinander gleiten. Eine Welt war in ihm, wo Wirklichkeit auf dem Kopf steht und Unwirklichkeit wird, ähnlich wie Häuser am Ufer eines Flusses im Spiegelglanz des Wassers mit dem Dach nach unten stehen und scheinbar auf einer anderen Weltseite leben, einer Welt, die

RkJQdWJsaXNoZXIy MjA3NjY=