Max Dauthendey - Rennewart - Raubmenschen
könnte man eine kleine Bibliothek füllen. Von Rennewarts Betrachtungen über Europa, die ab und zu den Faden der romantischen Begebenheiten interessiert unterbrechen, habe ich einige mit in die Romane aufgenommen. Gerade diese Europaüberblicke, sagte ich mir, zeigen ihn, den Völkerkenner, und diese Beobachtungen und Vergleiche sind sozusagen der massive Rahmen um jene romantischen Begegnungen und Abenteuer, mit denen Rennewart von seinem Schicksal so reichlich versorgt wurde. Ich schrieb diese Einführung, um Rennewart dem Leser vorzustellen, da er sich in seinem Roman nicht selbst vorstellt, sondern dort nur als fertiger Weltbetrachter und Welterleber auftritt. »Man muß sich von vornherein gegen alles wehren, auch gegen Schwerter, die noch in der Scheide stecken, gegen Kugeln, die noch nicht gegossen sind, und gegen Verräter, die erst noch geboren werden«, behauptet Rennewart einmal in einem seiner Romane. I. Eine Begegnung amAtlant Den Atlantischen Ozean sah ich zum erstenmal von dem kleinen Bretagnedorf Pouldu. Ich fuhr von einer unbedeutenden französischen Bahnstation in einem Einspänner auf einer kreideweißen Landstraße nach dem Dorf; es war im Mai. Grüner Roggen und braune gedüngte baumlose Felder lagen am Straßenrand; ich reckte den Hals im Wagen von Minute zu Minute länger und suchte unterm wolkenleeren Himmel im Westen den Atlantischen Ozean. Die Räder knatterten auf der beschotterten Straße. Platte Felder, wilde Hecken und Gedorn und ein paar kreiselnde Windmühlen waren stundenlang am Weg, aber kein Ozean. Ich wurde ungeduldig; als hätte mir jemand Geld und Hoffnungen gestohlen, so fühlte ich eine öde Enttäuschung in mein Blut einziehen, öde wie die kalkweiße endlose Landstraße. »Wo ist das Meer?« hatte ich den Kutscher öfters gefragt. Der hörte mich nicht; die Wagenräder rasselten; und der Wagen knatterte in allen Fugen. Im Westen mußte das Meer sein, der Atlant, den ich so sehr ersehnte, der große Wassergott Okeanos. Hinter den Feldern im Westen stieg allmählich eine Helle in den Himmelsraum – die wurde heller als der Tag auf der Landstraße, und die Erdstreifen voll grünem Roggen und Dung schienen sich zu verdunkeln; das Grün des Roggens wurde schwefelgrüner, wie von einem Gewitterstrahl beleuchtet, der Tag aber, der weißer als die Sonne aus der Erdtiefe in der Ferne hinter dem verdunkelten Feldrand heraufschien, strahlte in den Himmel und beleuchtete einige Wolken von unten heller, als es die Sonne von oben tat. Die Erdrinde, voll von Feldern und Hecken, schien zwischen zwei Sonnen wie eine dunkle Kruste gelagert. Eine Sonne der Tiefe schien gegen die Sonne der Höhe einen Lichtkampf aufzunehmen. Noch flogen im Westen wenig Singvögel aus den Hecken, und eine unheimliche großartige Stille lag dort in den Feldern. Diese Stille schien wie ein luftleerer Riesenraum das Land voll Roggen verschlucken zu wollen. Die Riesenstille des Atlant und das Blendlicht des Atlant, das in den Wolken spiegelte, Stille und Blendlicht kamen mir vom Wasserkörper des Gottes Okeanos zuerst entgegen, beide ungeheuerlich wie große ungeheuerliche Gesten eines unsichtbaren Giganten.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjA3NjY=