Max Dauthendey und Japan
Wenn ich dieses berichte, so bin ich nicht der Meinung, daß gerade diese Unterschiede nachahmenswert sind. Sondern ich will nur darauf hinweisen, daß ein Gedicht nicht vom einmaligen Vorlesen, wie es bei unseren öffentlichen Vorlesungen geschieht, verstanden oder voll aufgenommen werden kann. Wie man den edlen Wein langsam auf der Zunge kosten muß, um seine Blume festzustellen, so ist es mit einem edlen Gedicht, es will langsam und nachdenklich aufgenommen sein. Und zum langsamen Kunstgenießen muß das europäische Publikum erst erzogen werden. Zweimal und mehr muß jedes gute Gedicht gelesen werden, ehe sein Sinn und seine Schönheit im Herzen des Zuhörers keimen können. Ein gutes Gedicht kann immer wieder anders und neu, innerlich und äußerlich, im Gefühlssinn und im Wortlaut genossen werden. Ein Gedicht ist unerschöpflich, unergründlich wie das Himmelsblau, wie das Meerblau, wie ein Menschenauge, wie ein Sternhimmel. Bei allen diesen Leben können wir von unendlichen Lebenswerten träumen, so auch bei dem Gedicht und bei jedem Kunstwerk, wenn wir es langsam und öfters auf uns wirken lassen. – ... Meine Gedichte werden oft mit den kurzen gedrungenen Liedern der Asiaten verglichen. Ich habe aber niemals weder chinesische noch japanische Literatur studiert. Ich kenne von diesen Literaturen nur einige wenige Gedichte, die in den letzten Jahren in Übersetzungen zu uns gekommen sind. Ich erhielt öfters Aufforderungen von Literaturprofessoren, ihnen die Quellen zu nennen, aus welchen ich die japanischen Novellen und Liebesgeschichten entnommen, die ich nach meiner Reise um die Erde 1911 herausgab. Ich muß aber immer wieder und diesmal öffentlich erklären: ich kenne nichts von japanischen oder chinesischen Urtexten. Nur ein weniges, was in Übersetzungen zu uns kam, und das jene Herren viel aufmerksamer studiert haben werden als ich, kenne ich. Auf meiner Reise um die Erde, durch ganz Asien, von Bombay bis Yokohama, war es die vorher vor dem Leser ausgebreitete Weltanschauung, die mich der Seele der Asiaten sozusagen zum Zwillingsbruder machte. Und fühlt man seine Seele mit der Seele eines Volkes verwandt, und decken sich die Weltanschauungen, oder sind sie sich wenigstens sehr ähnlich, so ist es ein leichtes, das ganze Gebärdenspiel einer fremden Rasse, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Begierden, auch die Wallungen ihrer Leidenschaften zu verstehen und miterleben zu können, so wie man es zu Hause bei dem vaterländischen Volk tut. Durch Beobachtungsgabe und Rhythmusverständnis, die mir im Ohr und
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